– Erinnerung, Verantwortung, Gegengenwart –
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Angehörige,
sehr geehrte Gäste aus dem In- und Ausland,
herzlich willkommen in Wolfenbüttel – an diesem geschichtsträchtigen Tag und an einem Ort, der wie kaum ein anderer für Kultur, Erinnerung und Dialog steht.
Wir versammeln uns heute in einem Haus der Sprache – dem Lessingtheater. Worte können Erkenntnis stiften, Zusammenhänge sichtbar machen und Brücken bauen: von der Vergangenheit zur Gegenwart, von der Erinnerung zur Verantwortung.
Anlässlich seiner Rede im Januar zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslager Auschwitz sagte Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier: „Erinnerung kennt keinen Schlussstrich und Verantwortung deshalb auch nicht.“
Heute ist ein besonderer Tag in der Wolfenbütteler Erinnerungskultur.
Heute gedenken wir gemeinsam der Befreiung der Strafanstalt Wolfenbüttel vor 80 Jahren. Wir tun dies mit Nachdruck, mit Mitgefühl und mit dem klaren Bewusstsein, dass Erinnern allein nicht genügt, sondern auch Verantwortung im hier und jetzt erfordert.
Ich bin daher dankbar, dass so viele von Ihnen heute den Weg hierher gefunden haben, um ein Zeichen zu setzen: für Verantwortung, für Gedenken, für Menschlichkeit und Erinnern.
Besonders begrüße ich:
- Herrn Prof. Dr. Gerhard Wegner, Nds. Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens
- die königlich-norwegische Botschafterin, Frau Laila Hilde Stenseng,
- unsere Landrätin, Frau Christiana Steinbrügge,
- die Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Frau Dr. Elke Gryglewski,
- die Leiterin der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel, Frau Martina Staats
- sowie Herrn André Charon, stellvertretend für alle Angehörigen hier unter uns.
Mein herzlicher Dank gilt auch allen Mitwirkenden, insbesondere den Jugendlichen, die diese Veranstaltung mitgestalten – und damit zeigen, dass Erinnerung dann lebendig bleibt, wenn sie gemeinschaftlich getragen wird.
Der 80. Jahrestag der Befreiung Wolfenbüttels und der Justizvollzugsanstalt markiert nicht nur eine Zäsur in unserer Stadtgeschichte, sondern fordert uns auf, über das Fortbestehen demokratischer Werte in der Gegenwart nachzudenken. Die Erinnerung an die vergangenen Ereignisse dient als mahnendes Beispiel dafür, wie fragil die Fundamente von Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit sein können.
Heute am 80. Jahrestag des Kriegsendes in Wolfenbüttel, gedenken wir der Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, getötet, an Körper und Seele misshandelt oder in die Flucht getrieben worden sind. Nie zuvor hatte ein Krieg für ein derartiges Ausmaß an Zerstörung gesorgt.
Kriegshandlungen, Besatzung, Massenverbrechen wie der Holocaust, Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlungen sorgten für unermessliches Leid. Deutsche Aggression führte zu einem sechsjährigen Krieg, dem weltweit 60 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Zerstörung der Kultur – zuerst der geistigen, der materiellen und der des würdigen Miteinanders bis hin zur Tilgung jeglicher Menschlichkeit wurde von den Machthabern und ihren Erfüllungsgehilfen in Kauf genommen.
Am 11. April 1945 marschierten Einheiten der 9. US-Armee in Wolfenbüttel ein. Doch noch bis in die letzten Stunden bedrohten die Nationalsozialisten all jene, die nicht Widerstand leisten wollten.
Noch am 10. April 1945, wenige Stunden vor dem Eintreffen der amerikanischen Truppen, riefen fanatische Nationalsozialisten dazu auf, Wolfenbüttel zu verteidigen. Die Stadt, erschöpft vom Krieg, sollte sich gegen das Unvermeidliche stemmen.
Am Morgen des 11. April – an einem Ort, der damals noch Adolf-Hitler-Straße hieß (heute Neuer Weg) – klingelte ein etwa 15-jähriger Junge an die Tür einer Familie. Er trug eine Panzerfaust auf dem Rücken. Die junge Frau, die ihm öffnete – Käthe Heuer – war fassungslos. Der Junge fragte, ob man ihm ein Fahrrad leihen könne.
Er wolle zur Front fahren.
Käthe Heuer sah den Jungen an, der verirrt für eine verlorenen Ideologie in den Kampf ziehen wollte – und antwortete mit scharfem Ton:
‚Du dummer Bengel – mach, dass du nach Hause kommst!‘
Diese Szene ist mir von ihrer Tochter Eva-Maria Heuer vergangenen Sonntag berichtet worden.
Sie steht für die tragische Zerreißprobe jener Tage. Für den Wahn, der noch in den letzten Momenten Leben kosten sollte. Für den Mut, Nein zu sagen, auch wenn es spät ist. Und für die lange Geschichte des Erinnerns und Aufarbeitens, die mit der militärischen Befreiung begann und als moralische Befreiungsarbeit bis heute nachwirkt. Ein Bild für die gespaltene Seele der „Nachkriegsjahre“
Trotz dieser Umstände konnten die Alliierten die Stadt einnehmen, ohne dass es zu militärischen Auseinandersetzungen kam. Mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 endete schließlich der bisher verheerendste Vernichtungskrieg in Europa.
In Wolfenbüttel waren die Menschen kriegsmüde. Mit weißen Fahnen signalisierten sie:
Es soll endlich vorbei sein!
Und doch: Die Befreiung kam nicht aus eigenem Antrieb, sie hatte keinen Ursprung im Inneren der Stadtgesellschaft – sie wurde von außen herbeigeführt und zurecht erzwungen. Das ist eine historische Tatsache, der wir uns stellen müssen.
Wie vielerorts begann unmittelbar nach Kriegsende auch in Wolfenbüttel das Verdrängen, das Beschwichtigen und das Leugnen der eigenen Mitverantwortung und Rolle im NS-Staat, während zugleich das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen immer deutlicher wurde.
Es ging aber auch anders: Menschen, die trotz der drohenden Gefahr geholfen, hingeschaut und sich widersetzt haben. Unter Lebensgefahr retteten sie Verfolgte.
Ein eindrückliches Beispiel ist das Schicksal von Elli Bücher, einer Jüdin, die in einer sogenannten „privilegierten Mischehe“ (mit dem Wolfenbütteler Kunstmaler Otto Bücher) lebte. Ab dem 6. Februar 1945 wurde sie im Kunsthaus Koch dank der entschlossenen Unterstützung ihrer Helferinnen und Helfern untergebracht und konnte das Versteck am 11. April 1945 unversehrt verlassen. Menschlichkeit war selbst in finsteren Zeiten möglich.
Nach der Befreiung begannen die schwierigen Schritte des Neuanfangs. Die amerikanische Militärregierung ernannte am 18. April 1945 Robert Gustav Willy Mull, einen zuvor verfolgten Kreistagsabgeordneten und Sozialdemokraten, zum Bürgermeister. Er war im Zuge der Machtergreifung 1933 als Angestellter der Wolfenbütteler Kreisdirektion von den Nationalsozialisten in den Ruhestand versetzt worden und war nach dem Staatstreichversuch vom 20. Juli 1944 mehrere Wochen im Arbeitserziehungslager in Salzgitter-Watenstedt inhaftiert.
Die neue Verwaltung hatte große Aufgaben zu bewältigen: Versorgung, Wiederaufbau – und Hilfe für über 850 „Displaced Persons“ in elf Lagern, die auf ihre Heimkehr warteten. Zu Ihnen zählten auch die auf brutale Weise für die deutsche Kriegswirtschaft requirierten ausländischen Kriegsgefangenen. Ihre Lage war bedrückend. Sie waren traumatisiert, ortsfremd und mussten versorgt werden, während gleichzeitig ihre Rückkehr in ihre Heimatländer vorbereitet wurde.
Die Spuren des Unrechts waren allgegenwärtig – in den Schicksalen der Überlebenden, in ihren Biografien, in Gebäuden und den Institutionen nationalsozialistischer Verfolgungs- und Mordpolitik.
Besonders das Strafgefängnis Wolfenbüttel steht für eines der dunkelsten Kapitel unserer Stadtgeschichte: Hier wurden politische Gegner hingerichtet, weil sie den Mut besaßen, Widerstand zu leisten. Die Justiz wurde zur Handlangerin politischer Verfolgung, aus Recht wurde Unrecht. Frauen und Männer, die Widerstand geleistet hatten, die bei Nacht und Nebel verschleppt worden sind, oder diejenigen, die geringfügige Delikte begangen haben, wurden inhaftiert, gefoltert und ermordet.
Ihre Stimmen, ihre Erlebnisse, ihre Erinnerung – bewahrt in der Gedenkstätte – sind unser Mahnmal und moralisches Erbe unserer Stadt.
Ich danke deshalb insbesondere den Angehörigen der im Strafgefängnis ermordeten Männer und Frauen. Sie haben sich in den vergangenen Tagen aus vielen unterschiedlichen Orten und Ländern aufgemacht unter anderem aus Belgien, Frankreich, Israel, den Niederlanden, Norwegen, Polen, den USA und Deutschland, um an diesem historischen Tag gemeinsam mit uns ihren Familienangehörigen zu gedenken.
Ihr Besuch in Wolfenbüttel und unser gemeinsames Gedenken sind mehr als ein Zeichen der Erinnerung – sie sind ein Akt der Versöhnung und ein Beitrag zur europäischen und transatlantischen Erinnerungskultur.
Ihr Besuch ist Sinnbild dafür, wie historische Reflexion dazu beitragen kann, die Verbindungen zwischen Orten und Biografien lebendig zu halten. Unsere Städte stehen exemplarisch für den demokratischen Transformationsprozess Deutschlands der Nachkriegszeit.
Deshalb erinnern wir an die Befreiung des Strafgefängnisses in Wolfenbüttel.– Sie steht für das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft – und ist uns eine Mahnung: Nie wieder dürfen solche Verbrechen geschehen!
Die Befreiung durch die Alliierten bedeutete nicht nur die Zerschlagung eines verbrecherischen Systems, sondern sie konfrontierte uns als Gesellschaft mit der Notwendigkeit einer umfassenden juristischen und moralischen Aufarbeitung in den Folgejahren.
Deshalb markiert sie auch den Beginn einer neuen Ära freiheitlicher Emanzipation und wachsender Gerechtigkeit in der Nachkriegszeit.
Von der Diktatur zur demokratischen Teilhabe, von der ideologischen Spaltung zur freiheitlichen europäischen Einheit – dieser Weg war nur durch kritische Aufarbeitung und das gemeinsame Streben nach Versöhnung möglich.
Das war allerdings auch ein sehr langer Weg!
Dieser Prozess hat Jahrzehnte gedauert bis in seiner historischen und damals immer noch umstrittenen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Diese Worte sollten auch für den 11. April in Wolfenbüttel gelten.
Er sagte weiterhin und das trifft auch heute noch zu: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Geschichte vergeht nicht – sie setzt uns auch heute noch in Verantwortung. Er forderte überdies eine aktive Kultur der Erinnerung. „Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist, anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden den Ansatz zur Versöhnung zerstören.“
Bei Weizsäcker gab es keine „Stunde null“, sondern nur eine Chance auf einen Neubeginn, der genutzt worden sei, „so gut wir konnten“. Ihm ging es darum, zu zeigen das die Narrative der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit noch lange in der Gesellschaft vorhanden waren. Das von ihm schließlich ausgesprochene Bekenntnis zur Befreiung ließ dem entsprechend vier Dekaden auf sich warten.
Wo stehen wir heute – weitere 40 Jahre später?
Liebe Gäste – unsere demokratischen Prinzipien sind gegenwärtig bedroht!
Der Anstieg nationalistischer, populistischer und antisemitischer Strömungen in Deutschland und Europa zeigt uns: Frieden und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeiten und kein unverrückbarer Zustand.
Deshalb hat der Auschwitz-Überlebende Primo Levi uns eindringlich gewarnt:
„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Darin liegt die Dringlichkeit unseres Gedenkens.[1]
Der Blick in die heutige politische Landschaft zeigt alarmierende Parallelen zu Entwicklungen der Vergangenheit. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung wird zunehmend durch Extremismus, Populismus, Revisionismus und gezielte Desinformation herausgefordert. Dabei lassen sich besorgniserregende Tendenzen beobachten:
- Strategische Desinformationskampagnen mit dem Ziel, das Vertrauen in demokratische Institutionen zu untergraben.
- Erstarkende antidemokratische Bewegungen, die eine Abschottungspolitik propagieren, Minderheiten marginalisieren und Protektionismus hegen.
- Angriffe auf die Wissenschaft, Journalisten und politisch Engagierte, die sich für eine faktenbasierte, pluralistische Debattenkultur einsetzen.
Der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat die Gefährdung unserer Freiheitlichen Werte und die Erinnerungsfeindlichkeit politischer Akteure zusammengefasst:
„Freiheit ist ein Lebensprojekt, kein Ding, das sich, hat man es einmal, irgendwie festhalten ließe. Sie ist immer und überall bedroht und muss daher immer und überall verteidigt werden, individuell und gesellschaftlich. Es ist auch ein ewiger Kampf gegen die Macht und damit gegen die Macht des Vergessens. Nur wer erinnert, hat die Chance, nicht zu unterliegen. Die Mächtigen, zumal die gegen Freiheit Ankämpfenden, ziehen immer und sofort gegen das Gedächtnis, gegen die Erinnerung zu Felde – Putin macht das besonders anschaulich vor – und ich füge hinzu Tramp auch und die rechtsextremistischen Mitglieder der AFD auch. Die Bürgerrechtlerin Freya Klier verteidigt schon seit Jahrzehnten das von ihr formulierte elfte Gebot: Du sollst Dich erinnern!“[2]
Erinnerung muss aus der Perspektive der Gegenwart gedacht werden, damit künftige Generationen verstehen, dass sich jegliche Relativierung der Geschichte verbietet und Werte wie Freiheit, Toleranz und Menschenrechte universell und unverrückbar sind.
In unserem Land hat die Befreiung den Weg für Freiheit, Demokratie und Frieden bereitet. Die Erinnerung an sie, liebe Gäste, tragen wir nicht in uns allein. Erst im aktiven Dialog – das zeigen wir heute hier – wird Vergangenheitsbewältigung zu einer Brücke in die Gegenwart und Zukunft.
Was bleibt, wenn wir nicht erinnern? Was geschieht, wenn wir schweigen? Und was ist unsere Antwort auf den Hass von heute?
Die Antwort ist Haltung!
Gerade in Zeiten, in denen autoritäres Denken, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus erneut erstarken. Wenn sich unsere alten Verbündeten von der multilateralen Ordnung verabschieden, wenn Desinformation die Wahrheit untergräbt, wenn Populismus die Gesellschaft spaltet – dann braucht es Klarheit und Mut.
Von der Zelle zur Stimme. Vom Schweigen zur Verantwortung. Von der Diktatur zur Demokratie.
Es ist unser Auftrag, durch Erinnerung Verantwortung zu bewahren.
Es ist unser Auftrag, wachsam zu bleiben.
Es ist unser Auftrag, dem Hass zu widersprechen.
Es ist unser Auftrag, Geschichte weiterzugeben.
Es ist unser Auftrag – für Demokratie, Menschlichkeit und Zusammenhalt einzutreten.
Hier in Wolfenbüttel. In Deutschland. In Europa.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
[1] Primo Levi: Ist das ein Mensch?, München: dtv, 1998.- Primo Levi wurde als „eine der bedeutendsten und weltweit anerkannten Ikonen der Holocaust-Literatur“ (Geerts) bezeichnet, ja sogar als „der Zeugen-Autor par excellence“, denn „seine Erzählungen, Gedichte und Essays über seine Zeit in Auschwitz gehören zu den meistgelesenen und am meisten gelobten Schriften über den Holocaust
[2] Das Zitat stammt aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Politische Ideengeschichte – Die Einsicht, nicht länger mitzumachen“, veröffentlicht am 28. Oktober 2019. Der Artikel bespricht das Buch „Dissidentisches Denken“ von Marko Martin, das europäische Dissidenten des 20. Jahrhunderts porträtiert. In diesem Kontext wird die Bürgerrechtlerin Freya Klier erwähnt, die seit Jahrzehnten das von ihr formulierte „elfte Gebot“ verteidigt: „Du sollst Dich erinnern!“