Rede – 50 Jahre Abeitsgemeinschaft Altstadt Wolfenbüttel 18.09.2015
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Mitglieder der Aktionsgemeinschaft Altstadt,
Frau Waltraut Dahlmeyer,
Herr Dieter Kertscher,
Herr Manfred Frohse,
Herr Jürgen Hunger,
Herr Dr. Sebastian Mönnich,
und meine liebe Nachbarin Dr. Ilse Dolinschek
stellvertretend der Vorstand für alle Engagierten des Altstadtgemeinschaft,
liebe Wolfenbüttelerinnen und Wolfenbütteler,
50 Jahre Aktionsgemeinschaft Altstadt Wolfenbüttel – herzlichen Glückwunsch und Willkommen, Bienvenue, Welcome. Diese Begrüßung kennen Sie – sie steht auf Ihrer eigenen Seite. Dort lesen wir: „Engagierte Bürger gründeten 1975 den Verein, um die historische Altstadt zu bewahren und Lebensqualität für kommende Generationen zu sichern.“
Was wäre Wolfenbüttel ohne seine Altstadt?
Ein Ort ohne Gedächtnis. Wer, wenn nicht Sie, haben verhindert, dass Erinnerung getilgt wird? Heute, 50 Jahre später, genügt ein Blick aus dem Fenster: Es ist Ihnen gelungen.
Ich erinnere mich an meine erste Führung in die Kasematten: Taschenlampenlicht, kühle Luft, Stimmen werden leiser. Da spürte man: Geschichte ist Gegenwartsprägend.
Was waren die treibenden Kräfte für die Entstehung der Altstadtgemeinschaft in Wolfenbüttel – Was war das für eine Zeit?
1968 war die „Studentenrevolution“ ein vorläufiger Höhepunkt gesellschaftlicher Friktionen. Junge Menschen wandten sich gegen Revisionismus und insbesondere gegen die Sprachlosigkeit und das Schweigen um die Verantwortung gesellschaftlicher Akteure für die Gräuel des Nationalsozialismus. Sie taten das progressiv, gegen autoritäre Strukturen und trugen zu einer Bewusstseinsveränderung bei. Es entstand ein Schmelztiegel für ein neues Demokratieverständnis, gegen die Obrigkeitshörigkeit der Zeitgenossen und für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungen. Mitte der 1970er herrschte vielerorts eine nachkriegsgeprägte Abrisswut.
Der so genannte Fingerplan von Kampffmeyer in Frankfurt sah vor mächtige Schneisen durch die Stadt zu schlagen und denkmalwerte Bausubstanz „modernem“ Wohnbebauung zu Opfern. Göderitz, Reiner, Hoffmann lieferten in den 60er Jahren das städtebauliche Leitbild dazu. Auch in Wolfenbüttel gab es solche Planungen. Die ursprüngliche Verkehrsführung über den Schlossplatz und die Auguststädter Ortsumgehung, die tatsächlich von Göderitz, der in Braunschweig lehrte, geplant war. In Frankfurt gipfelte der Widerstand schließlich im „Frankfurter Häuserkampf“ (Westend): Bürgerinitiativen, Hausbesetzungen, Protestzüge gegen Abrisse und Spekulation – mit bekannten Protagonisten wie Joschka Fischer, Daniel CohnBendit, Tom Koenigs, Johnny Klinke sowie der Aktionsgemeinschaft Westend (u. a. Odina Bott) – setzten ein Signal für den bundesweiten Kurswechsel weg vom Abriss, hin zur Erhaltung. Dagegen formierte sich die Gegenbewegung, 1975 gekrönt vom ersten Europäischen Denkmalschutzjahr. Auch bei uns in Wolfenbüttel wurde gestritten: Karstadt-Gebäude (fertiggestellt 1977), Nachbau des „Schluckpeters“, EulenspiegelReliefs – alles umstritten und leidenschaftlich diskutiert. Und bundesweit die Frage: „Reißen wir ab – oder erinnern wir uns?“
Historischer Einschub:
Der „Schluckpeter“ (Löwenstraße 2), ursprünglich Pforthaus am Löwentor (frühes 17. Jh.), wurde 1972 abgerissen – „Aus Schluckpeter wird Karstadt“ (Foto: Paul Kertscher). Der Neubau des Karstadt/HertieKaufhauses (Entwürfe 1968–1975, Fertigstellung 1977) im sensiblen Übergang zwischen Schlossbereich und Innenstadt löste eine Protestwelle aus. Überregionale Medien berichteten: die FAZ am 14.02.1976 unter der Überschrift „Kurzschluss in einer alten Residenz. Wolfenbüttel, seine Bibliothek und ein Kaufhaus an der falschen Stelle“; Manfred Sack schrieb am 16.01.1976 in DIE ZEIT kritisch über die städtebauliche Setzung. Auch damals hatten wir lokale Protagonisten der Debatte und Stadtsanierung: Das waren Prof. Paul Raabe, Prof. Dr. Manfred Fild (AG Vorsitz 1978–1982), Dieter Kertscher, Sybille Maiboom, Horst Hämmerli, Hans Mai neben vielen anderen, die ich nicht alle aufzählen kann.
Sie standen für Erhalten – Sanieren – Gestalten.
In Wolfenbüttel feierten wir 1974 das erste Altstadtfest – Ausdruck einer neuen Zeit. Die historische Bausubstanz in den Innenstädten wurde als Schatz entdeckt. Es war der Beginn eines Bewusstseinswandels – weg vom Abriss, hin zur Erhaltung. Ein Jahr später, 1975, folgte europaweit das Europäische Denkmalschutzjahr – mit dem Ziel, das bauliche Erbe nicht nur zu würdigen, sondern zu erhalten.
„A Future for Our Past“ – Europa lernt Bewahren als Aufgabe. Abriss war gestern. Erhaltung ist Fortschritt. Gemeinsam ist Zukunft.
Was hieß das konkret für Wolfenbüttel?
Wir hier gaben dem Wandel Struktur – mit Sanierungsgebieten, die über Jahre verlässlich wirkten und unsere Altstadt behutsam erneuerten. Zum neuen Gesicht der Innenstadt brauchte es allerdings einen langen Atem:
Die förmliche Festlegung des Sanierungsgebietes „Historische Innenstadt Wolfenbüttel“ trat 1977/ 1978; umfasste dieses die Heinrichstadt sowie Teile der August und Juliusstadt. Es gab zuvor vorbereitende Untersuchungen durch die NILEG (1974–1975) und es gab einen eingesetzten (u. a. Mitglieder der AG Altstadt und Prof. Paul Raabe). Sanierungsbeirat. Von Juli 1979 bis Mai 1981 wurde der Rahmenplan „Sanierung“ (Prof. Spengelin, TU Hannover) aufgestellt und anschließend die Sanierung vollzogen. Im Verlauf kam es zu Teilaufhebungen und Entlassungen von sanierten Bereichen zunächst im Juni 2013 (Teilbereich Heinrichstadt), Der Formaler Abschluss des gesamten Sanierungsgebiets fand anschließen im Juni 2017 statt.
Das Ergebnis lässt sich sehen: behutsame Erneuerung bei gleichzeitiger Bewahrung des Bestands unter Einsatz erheblicher Fördermittel von Bund Land und Stadt.
Das war nicht das Ende:
Anschließend folgte das Sanierungsgebiet Dammfeste & Freiheit (ab 2015): Das Sanierungsgebiet wurde per Satzung vom 18. März 2015 beschlossen: Hierbei ging es um die Neugestaltung der öffentlichen Räume. Der westliche Teil der Fußgängerzone und der Schlossplatz wurden bis 2019 abgeschlossen und der letzte Bauabschnitt in der Fußgängerzone grade vor einigen Tagen beendet (2023/24–2025)
Ziel waren: Die Steigerung der Aufenthaltsqualität, Wegeführung, Barrierefreiheit, Stadtmöblierung.
Auf diesem Fundament bauen wir heute auf:
48 Jahre Stadtsanierung! Was damals hoffnungsvoll begann und bis heute Erfolge feierte, droht aus dem Fokus jüngerer Generationen zu rücken. Bewahren braucht Verbündete.
Weil Erinnerung Haltung bildet.
Weil Baukultur Lebensqualität schafft.
Weil Zukunft Vergangenheit und Herkunft braucht.
Der Beitrag der Aktionsgemeinschaft – Ihr Beitrag – ist unverzichtbar. Sie haben Stadtführungen etabliert, insbesondere zu den Festungsanlagen.
Die wieder freigelegten Kasematten haben Strahlkraft weit über die Region hinaus.
Sie richten den Weihnachtsmarkt im Schloss aus, geben die Reihe „Spurensuche“ heraus (Heft 20 seit 06.12.2024), veranstalten Exkursionen – und Sie haben 2018 zum 900jährigen Stadtjubiläum eine Chronik vorgelegt. Mit Ihrer Geschäftsstelle im Kleinen Zimmerhof sind Sie sichtbar; Ihr Vorstand ist in den Medien gefragter Ratgeber. Kurz: Sie schaffen Lebensraum, und bewahren nicht nur Denkmäler, obwohl auch das eine wichtige Aufgabe ist.
Einladend in die nächsten 50 Jahre
Die Sperrsituation des Festungsdenkmals in der Feuerwache ist unbefriedigend. Bis Ende des Jahres wollen wir gemeinsam eine Öffnungsperspektive mit Maßnahmenliste erarbeiten – von Beschilderung bis Sicherheit. Ziel ist eine Antragstellung zur Förderung der Öffnung. Seit diesem Jahr engagiert sich Knut Foraita in der Aktionsgemeinschaft. Seit seinen Anfängen hier bei der Stadt Wolfenbüttel war er gemeinsam mit Horst Hämmerli engagiert. In seinem Schreiben zu dem heutigen Festakt schrieb er mich auch im Namen von Dieter Kertscher an und bat, die 50JahrFeier im Historischen Ratssaal auszurichten. Wo sonst, habe ich mich gefragt?
Selbstverständlich: im sanierten Ratssaal, dem Brennpunkt, ja der Herzkammer aller Erhaltungsdebatten zu unserem baukulturellen Erbe in Wolfenbüttel – mitten in der Altstadt, mitten in der Stadtgesellschaft.
Liebe Gäste wofür stehen wir?
Bewahren heißt nicht stehen bleiben. Bewahren heißt: klug erneuern und Geschichte sichtbar und erlebbar machen.
Oder anders: Wir bewahren, damit wir erneuern können – und wir erneuern, damit Kultur bleibt. In unserer baulichen Umwelt und in den Seelen unserer Bürgerinnen und Bürger. Deshalb werden wir auch das Elster und Geitelhaus sanieren. Weil es unsere Verantwortung ist.
Liebe Mitglieder der Aktionsgemeinschafts Altstadt Wolfenbüttel. Ihr Engagement ist der Resonanzboden unserer Stadtgesellschaft; wer die Wiedersprüche der Geschichte aushält und den Streit zwischen Geschichtsvergessenheit und Bewahrung führt, gewinnt für unsere gemeinsame Zukunft. Der scheinbare Wiederspruch zwischen Tradition und Innovation ist in Wahrheit unser Antrieb. Hier können wir in bester Manier auf unsere herzöglichen Maximen „Erworbenes erhalten“ und „Alles mit Bedacht“ zurückgreifen.
Ich danke Ihnen für Ihre Hartnäckigkeit, ihren Sachverstand und Herz – für 50 Jahre Einsatz.
Wer, wenn nicht wir heute – und wann, wenn nicht jetzt – lädt die nächste Generation ein, mitzumachen?
Bleiben wir neugierig auf das, was war – und mutig für das, was wird. Willkommen, Bienvenue, Welcome – in den nächsten 50 Jahren einer Stadt, die ihre Geschichte liebt.
Vielen Dank!